Gesundheit erlangen - Sommer 2021

35 Interview Multiple Sklerose. Was hat unser Darm mit unserem Gehirn zu tun? Eine ganze Menge, erklärt der Neurologe Prof. Dr. Veit Rothhammer, der am Uni-Klinikum Erlangen zur Neuroimmunkrankheit Multiple Sklerose (MS) forscht. Was viele Menschen nicht wissen: Der Darm besitzt ein eigenes komplexes Nervensys- tem. Wie funktioniert das? Unser Darm besitzt zwei Nervengeflechte, die vor allem die Peristaltik steuern, also die Bewe- gung des Darms, um die Nahrung zu transpor- tieren. Darüber hinaus produziert er viele Bo- tenstoffe selbst, die er für seine Funktion be- nötigt, zum Beispiel das Serotonin für die Darm- motorik, und steht in Interaktion mit der Bauch- speicheldrüse und mit dem Blutfluss. Dennoch reagiert der Darm stets auf Stimuli, das heißt, er arbeitet nicht autark, sondern in Abhängig- keit von unserem eigentlichen Nervensystem. Wie kommt es jetzt zu dieser Verbindung zwischen dem Darm und dem Gehirn? Über die Darm-Hirn-Achse kommunizieren das Gehirn und der Darm und stehen so miteinan- der in Verbindung. Das Gehirn steuert über die sympathischen und parasympathischen Ner- venbahnen die Darmfunktion. Das merken wir zum Beispiel daran, wenn wir viel oder schwer Verdauliches gegessen haben und müde wer- den. Weil das Blut dann vom Nervensystem nicht mehr in die Extremitäten gelenkt wird, sondern in den Magen-Darm-Trakt, was uns zu Ruhe und Regeneration auffordert. Es gibt eine Interaktion zwischen beiden Organsyste- men. Deshalb können Veränderungen, die bei den Darmbakterien auftreten, möglicherweise auch Veränderungen im Gehirn hervorrufen. Im Gehirn beginnt auch die Erkrankung Multiple Sklerose. Was passiert dabei genau? Die MS ist eine chronisch-entzündliche Autoim- munerkrankung, bei der Immunzellen fälschli- cherweise Gehirnzellen angreifen. Wir wissen, dass die Entzündungsherde im Gehirn Sympto- me verursachen, die in unterschiedlichem Aus- maß wieder abflauen; wir sprechen hier von Schüben der Erkrankung. Was könnte die Interaktion zwischen Gehirn und Darm für den Verlauf einer neurologi- schen Erkrankung wie der MS bedeuten? Studien haben gezeigt, dass Botenstoffe, die im Darm produziert werden, die Blut-Hirn- Schranke überwinden. Sie können im Gehirn entzündliche Prozesse beeinflussen, sodass diese sich zu einer chronischen Entzündung entwickeln oder abflauen können. Forschungs - arbeiten haben beispielsweise gezeigt, dass MS-Patienten in ihren Darmbakterien Verände- rungen aufweisen, die bei diesbezüglich gesun- den Menschen nicht festzustellen sind. Weiter- hin gibt es Erkenntnisse, dass diese veränder- ten Darmbakterien die Aktivität von Immunzel- len beeinflussen und so Entzündungsaktivitä - ten im Gehirn modulieren. Wenn die Zusammensetzung der Darmbak- terien Einfluss auf den Verlauf einer MS-Er - krankung haben kann, entsteht die Frage, ob sich diese womöglich auch über die Ernährung positiv beeinflussen lässt. Allein durch eine gesunde Ernährung ist die MS natürlich nicht zu behandeln, aber die not- wendige Immuntherapie kann dadurch positiv beeinflusst werden. Grundsätzlich wird MS-Pa - tienten eine ausgewogene, mediterran ausge- richtete Ernährung empfohlen, also salz- und fettarme Speisen mit vielen Ballaststoffen und wenigen tierischen Proteinen. Übergewicht sollte genauso vermieden werden wie das Rauchen. →

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