Gesundheit erlangen - Herbst 2021
19 Titel die Hälfte davon sind Mädchen, die unter Ess- und Zwangsstörungen leiden. Wie bei vielen Gleichaltrigen begann dieser Prozess auch bei Nadine schleichend“, berichtet die Ärztin. „Sie konzentrierte sich immer mehr auf ihre Figur, wurde zunehmend unzufriedener und trauriger und zog sich nicht nur von allen sozialen Aktivi- täten, sondern auch von ihren Freundinnen zurück.“ Stattdessen begann der Teenager exzessiv zu joggen und probierte sich mithilfe von YouTube-Videos an im- mer neuen Work-outs. Irgendwann fiel Nadines Eltern auf, dass ihre Tochter wiederholt Ausreden erfand, um nicht an den Familienmahlzeiten teilnehmen zu müssen, und zudem sichtbar an Gewicht verlor. „Mädchen wie Nadine entwickeln eine verzerrte Wahrnehmung und empfinden sich viel dicker, als sie tatsächlich sind“, er- läutert Dr. Horndasch. „Durch das Fasten erlangen sie ein Gefühl von Kontrolle zurück und fühlen sich besser und stärker. Vor allem Jugendliche, die ohnehin nicht be- sonders selbstsicher sind und sehr perfektionistisch und leistungsorientiert aufwachsen, sind anfällig dafür, ein gestörtes Körperbild zu entwickeln. Als Auslöser reicht dann manchmal eine einzige kritische Bemerkung über ihre Figur in der Familie oder im Freundeskreis.“ Medien und Models Wie viele Teenager schaute auch Nadine regelmäßig die umstrittene Talentshow „Germany’s Next Topmodel“ und verglich sich in den sozialen Medien mit den attrak- tiven Bildern der von ihr bewunderten Stars. „Es gibt in- zwischen mehrere Studien, die belegen, dass diese TV- Show bei Mädchen die Unzufriedenheit mit dem eige- nen Körper deutlich erhöht“, bestätigt Dr. Horndasch. „Die Jugendlichen sehen weder die harten Berufsbedin- gungen noch die Schminke der Models und durchschau- en die Wirkung von massiver Bildbearbeitung in den so- zialen Medien nicht. Im Vergleich mit diesen oft völlig unrealistischen Darstellungen können sie nur verlieren.“ Die Fixierung auf ihre scheinbar unzulängliche Figur be- wirkt inzwischen laut aktuellen Studien in Deutschland bei jedem fünften Kind ab elf Jahren Anzeichen einer Essstörung, vergleichsweise häufig kommen zwanghaf- te Verhaltensweisen hinzu. „Es beginnt mit dem ständi- gen Kalorienzählen, dem zwanghaften Vermeiden be- stimmter Nahrungsmittel oder dem permanenten Blick in den Spiegel und reicht bis zum ständigen Messen des Bauchumfangs oder des Handgelenks mit den Fingern. Auch die gewissenhafte Erledigung der Schularbeiten oder eine perfekte Ordnung im eigenen Zimmer sind Kennzeichen einer Zwangsstörung. Die Betroffenen er- lauben sich keinerlei Fehler oder Schwächen“, erläutert Dr. Horndasch. Positiv auf sich schauen Während der oft monatelangen stationären Behandlung lernen Mädchen wie Nadine zunächst, sich und ihren Körper wieder neutral zu betrachten. „Wir üben, den Fo- kus auf ihre positiv wahrgenommenen Körperbereiche zu lenken. Oft fallen anfangs Sätze wie ‚Meine Haare und das Gesicht sind noch okay. Die Beine sind aber ganz schlimm‘“, beschreibt die Ärztin die therapeutische Arbeit. „Wir arbeiten an ihren Gedankenmustern und ih- rer Einstellung sich selbst gegenüber. Sie lernen, die Auf- merksamkeit weg vom Aussehen auf ihre persönlichen Stärken und Ziele zu richten und sich zu fragen: Was bin ich als Mensch wert – unabhängig von der Summe mei- ner Kilos? Neben Sport und Bewegung sind auch Ent- spannungsübungen oder ‚Beautytage‘ wichtige Schritte auf dem Weg zu einem positiven Körperbild“, betont Dr. Horndasch. „Zu den Übungen gegen das Vermeidungs- verhalten gehört zum Beispiel das Eincremen und Be- rühren des eigenen Körpers und auch ein bewusst un- gesundes Pizzaessen. Ziel ist es, dass den Jugendlichen bei der Beschäftigung mit ihrem Ausssehen der richtige Mittelweg zwischen ‚zu wenig‘ und ‚zu viel‘ gelingt.“ kb Oberärztin PD Dr. Stefanie Horndasch hat das Thema Essstörungen bei Jugendlichen seit vielen Jahren als Forschungsschwer- punkt.
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