Gesundheit erlangen - Frühling 2024

| 3 „Manchmal habe ich 50 Webseiten gleichzeitig offen, versuche sie zu gruppieren und habe immer das Gefühl, noch mehr wissen zu wollen. Aber ich habe keine Ahnung, wo ich eigentlich anfangen soll“, erzählte mir kürzlich eine Freundin, die sich gerade intensiv mit künstlicher Intelligenz beschäftigt. Nicht nur an ihrem Computerbildschirm, auch in ihrem Gehirn sind permanent sehr, sehr viele Fenster geöffnet. Sie sagt, dass sie sich innerlich unruhig fühle und oft schlecht schlafe. Das mit dem Beinwippen habe sie sich abgewöhnt. Stattdessen hat sie jetzt einen Fingerring mit kleinen kupferfarbenen Perlen, die sie hin- und herschieben kann, um ihre Anspannung zu senken. Was sie auch seit Kurzem hat, ist eine ADHS-Diagnose – und zwar eine deutliche. Ihr NoiseCancelling-Kopfhörer ist für meine Freundin die Erfindung des Jahrtausends, das Homeoffice, in dem sie sich selbst organisieren kann, ein Segen. Denn häufig ist für sie zu laut, zu voll, zu hell und zu warm, was andere gar nicht als störend empfinden. Grund ist die neurobiologische „Standardeinstellung“ ihres Gehirns, das andauernd mehr Reize durchlässt, als ihm eigentlich lieb ist. Alles erscheint gleich wichtig. Sich auf das zu konzentrieren, was gerade gesagt wird, und dabei nicht abzuschweifen, jemandem nicht ins Wort zu fallen, persönliche Gegenstände nicht zu verlegen, nicht emotional überzureagieren, wenn ihr etwas gegen den Strich geht – all das ist für meine Freundin sehr anstrenZu viel auf einmal Editorial Chefredakteurin von „Gesundheit erlangen“ gend. Und jetzt wissen wir auch, wa- rum. Es könne sein, dass sie demnächst im gemeinsamen Urlaub mal ihre Jacke, ein Kissen oder andere Dinge vor Wut auf den Boden werfe. Manchmal sei der Impuls, zu reagieren, einfach stärker und schneller als das Verstehen dessen, was eigentlich gerade passiert ist. Ich bin jetzt vorbereitet und habe mit ihr vereinbart, dass im Urlaub maximal weiche Sachen geworfen werden ... Darüber mussten wir beide lachen. „ADHS ist eine Erklärung, aber keine Entschuldigung für alles“, sagt auch Dr. Tanja Richter-Schmidinger, Psychologin am Uniklinikum Erlangen, in unserem Artikel auf Seite 50. Die ADHS-Dia- gnose hilft, Verhalten einzuordnen und auch die positiven Seiten, die diese Andersartigkeit oft mit sich bringt, zu sehen und wertzuschätzen: Ideenreichtum, Begeisterungsfähigkeit und Interesse an vielen Dingen, Spontaneität, Direktheit und kritisches Denken über den Tellerrand hinaus. Ich wünsche Ihnen viele neue Erkenntnisse beim Lesen dieser Ausgabe, in der Sie neben einem ADHS-Betroffenen noch viele andere Patientinnen und Patienten mit ihren besonderen Geschichten kennenlernen werden. Unglaubliche Entdeckung Jemand kommt wegen eines Fahrradsturzes und eines gebrochenen Knochens ins Krankenhaus – doch plötzlich wird bei einem MRT des Kopfes noch ein ganz anderes Problem sichtbar. Die Grenzen zwischen Glück und Unglück sind oft verschwommen, wie unsere Patientengeschichte auf Seite 10 zeigt.

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