KOPFSACHE Blinzeln, räuspern, schniefen, wiederkehrende Bewegungen: Viele Menschen haben Tics. Bei Kindern beginnen sie meist zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr. Zur Störung werden sie, wenn sie Betroffene oder ihr Umfeld belasten. INTERVIEW VON FRANZISKA MÄNNEL Herr Prof. Kratz, wie erklären Sie Kindern, Jugendlichen und deren Eltern, was Tics sind? Tics sind unwillkürliche Bewegungen oder Geräusche. Ich sage immer, man kann sich das vorstellen wie starken Juckreiz: Bei einem Tic entsteht der starke Reiz, etwas zu tun, und man kann es nicht oder nur sehr schwer unterdrücken. Eine andere gute Metapher ist Gähnen: Wenn wir uns mal bewusst beobachten, bemerken wir, wenn wir demnächst gähnen müssen. Der Drang kommt und wird immer stärker. Vielleicht gehen die Kiefer schon auseinander, aber wir pressen die Lippen zusammen, um den Mund nicht öffnen zu müssen. Aber irgendwann geben wir dem Reiz doch nach. Das veranschaulicht, wie schwer es ist, Tics nicht auszuleben – wobei sie noch viel schärfer und drängender sind als das Gähnen. Tics sind also nicht kontrollierbar? Zunächst nicht oder nur sehr kurz, und das erfordert sehr viel Kraft. Es ist wichtig, zu verstehen: Die betroffenen Kinder können nichts für ihre Tics. Sie führen sie nicht in der Absicht aus, andere zu ärgern oder zu nerven. Sie können einfach nicht anders. Und wie kommt es zu diesem Verhalten? Das Gehirn ist wie ein Orchester, und es gibt die Möglichkeit, Millionen von Tönen zu produzieren oder miteinander zu kombinieren. Bei einem Tic fehlt die Impulskontrolle und es ploppt einfach irgendeine dieser unzähligen möglichen Melodien auf. In bestimmten sozialen Situationen, zum Beispiel in der Schule, oder wenn die Melodie sehr häufig ertönt, wird das dann als unangemessen erlebt. Aber: Oft stört es die Betroffenen selbst gar Prof. Dr. Oliver Kratz leitet die Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit des Uniklinikums Erlangen. Kopfsache nicht so sehr. Es ist häufig eher das Umfeld, das genervt reagiert. Dadurch kann dann auch bei den Kindern ein Leidensdruck entstehen. Welche Beispiele für Tics gibt es? Wir unterscheiden motorische und vokale Tics. Erstere sind Bewegungen, also zum Beispiel Blinzeln, mit den Fingern auf den Tisch klopfen, mit dem Kopf nicken, den Arm kreisen, mit den Schultern zucken. Vokale Tics sind Geräusche, Laute oder einzelne Wörter, die immer wieder geäußert werden. Räuspern ist der häufigste vokale Tic. Kommen mindestens zwei motorische und mindestens ein vokaler Tic zusammen und bestehen sie mindestens für ein Jahr, kann es sich um das Tourette-Syndrom handeln. Diesbezüglich kennen viele das Beispiel mit den Schimpfwörtern in den unpassendsten Situationen. Ja, das ist am bekanntesten, weil am meisten darüber berichtet wird. Wir nennen diese beleidigenden oder anstößigen Äußerungen Koprolalie. Die betrifft aber nur etwa zehn Prozent derer, die ein Tourette haben. Es gibt auch die Kopropraxie – das sind obszöne Gesten. Wir hatten mal einen Patienten, dessen anstößige Geste war im Ausland, in einer anderen Kultur, plötzlich kein Problem mehr. Also hat sein Gehirn sich eine neue gesucht, die in dem anderen Land wieder sozial unangemessen war. Letztlich laufen dabei unwillkürliche → | 41
RkJQdWJsaXNoZXIy ODIyMTAw