Gesundheit erlangen - Sommer 2025

50 | Kopfsache Fortsetzung von S. 49 haben nicht nur ein Trauma erlebt, sondern mehrere. In solchen Fällen sprechen wir von einer Mehrfach- oder komplexen Traumatisierung beziehungsweise von einer komplexen PTBS, kurz kPTBS. Welche Erfahrungen sind damit gemeint? Wir sehen häufig Personen, die in der Kindheit von ihren Eltern vernachlässigt wurden – sowohl körperlich als auch emotional. Betroffene haben in frühen Lebensjahren nicht die emotionale oder materielle Zuwendung erhalten, die sie gebraucht hätten. Das kann bedeuten, dass ihre Eltern sie im Säuglingsalter nicht ausreichend mit Nahrung versorgt haben, aber auch, dass die Erziehungsberechtigten nicht in der Lage waren, sie emotional zu unterstützen, mit ihnen zu spielen, ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen oder andere positive Reize zu setzen. Häufig ist sogar das Gegenteil der Fall: Statt Zuwendung haben sie körperliche Gewalt oder sexuellen Missbrauch erlebt. Wie kommt es zu Vernachlässigung oder Missbrauch? Neben widrigen Lebenssituationen können Suchtverhalten oder andere psychische Probleme der Eltern – etwa Persönlichkeitsstörungen – eine Rolle spielen. Die Eltern sind aufgrund ihrer eigenen Vorbelastung dann nicht in der Lage, ausreichend für ihr Kind zu sorgen. Abgesehen von der Anzahl der traumatisierenden Erlebnisse – worin unterscheidet sich eine komplexe PTBS von einer „normalen“ PTBS? Betroffene der kPTBS weisen neben den Merkmalen der PTBS weitere, oft tiefergehende Symptome auf. Hierzu zählen Schwierigkeiten in der Emotionsregulation, Probleme mit zwischenmenschlichen Beziehungen und ein niedriger Selbstwert. Auch Dissoziation kann die Folge sein, also ein psychischer Zustand, in dem eine Person das Gefühl hat, von ihrer Umgebung oder ihrem eigenen Körper getrennt zu sein. Hinzu kommt, dass mehrfach traumatisierte Personen im Lauf ihres Lebens meist weitere Traumatisierungen erfahren. Inwiefern? Ein Kind, das mit einem gewalttätigen Vater aufwächst, entwickelt Fähigkeiten, mit belastenden Situationen umzugehen – oder besser gesagt, sie auszuhalten. Das Kind wird resilient – zu resilient. Im Erwachsenenalter neigt die betroffene Person möglicherweise dazu, sich in eine Beziehung mit einem Partner zu begeben, der dem Vater ähnlich ist. Andere Menschen würden die Beziehung beenden, mit dem Gedanken: „Das tut mir nicht gut.“ Doch wer dysfunktionales Verhalten in der Familie erlebt hat, hat gelernt, es zu ertragen. Die Person bleibt in der Beziehung – denn sie wirkt vertraut. Wie können Sie Betroffenen mit einer kPTBS helfen? Die Expertise in der Psychotherapie hat in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen. Durch die Etablierung spezialisierter Behandlungssettings wie in unserer Psychosomatik finden mehr Betroffene den Weg zu uns, auch diejenigen, die sehr schwer beeinträchtigt sind. Bei der psychotherapeutischen Behandlung von PTBS im Allgemeinen und der kPTBS im Besonderen berücksichtigen wir in Deutschland drei Phasen: Stabilisierung, Trauma-Exposition und Rehabilitation. Die erste Phase dient der Vertrauensbildung. Aufgrund der schrecklichen Erfahrungen, die Betroffene gemacht haben, sind sie misstrauisch und erwarten, dass ihre Umwelt schlecht mit ihnen umgeht. Daher ist es wichtig, dass sie sehen, dass wir Therapeutinnen und Therapeuten für sie da sind. Zugleich bringen wir den Betroffenen bei, wie sie selbst mit Intrusionen umgehen können. Das beinhaltet unter anderem Distanzierungsübungen. Ein Beispiel: Wenn ein Patient in einen ängstlichen Zustand gerät, könnte er sich vorstellen, die beängstigenden Gedanken in eine Kiste zu packen und diese abzusperren. Diese Imagination kann dabei helfen, die Angst zu bewältigen. Außerdem ist es wichtig, die Lebensgeschichte zu beleuchten und eine sogenannte Lebenslinie zu erstellen. Das heißt, das Behandlungsteam stellt sich gemeinsam mit der PatienProf. Dr. (TR) Yesim Erim leitet die Psychosomatische und Psychotherapeutische Abteilung des Uniklinikums Erlangen.

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