Gesundheit erlangen - Herbst 2021

39 Medizin-Report Tränenreiche Reinigung Erklärungen zum Nutzen des emotionalen Weinens gibt es einige, etwa die „Kathar- sis-Theorie“, die auf Aristoteles zurückgeht, und der auch Sigmund Freud anhing. Danach profitiert ein weinender Mensch von einer psy - chischen Reinigung und findet so seine emoti - onale Balance wieder. Prof. Mardin: „Heute sprechen wir von der Recovery-Theorie, nach der der Körper nach einer Phase der emotio- nalen Spannung durch Weinen eine Art ‚non- verbalen Reset‘ herstellt und dadurch in die vom Parasympathikus begleitete Entspan- nung übergeht.“ Während viele Menschen die- se spürbare Erleichterung nach einem Wein- ausbruch subjektiv bestätigen, konnten Teil- nehmende von Selbstbeobachtungsstudien nach Weinausbrüchen keinen Unterschied in ihrer Stimmung feststellen bzw. empfanden eine Stimmungsaufhellung nur dann, wenn nach dem Weinen auch das verursachende Problem gelöst werden konnte. Warum wird geweint? Ob eine emotionale Erregung bei uns zu Tränen führt oder ob die Augen trocken bleiben, ist of- fenbar vom Zusammenspiel vieler Faktoren ab- hängig. „Zentrale autonome Hirnregionen, der Parasympathikus und der Sympathikus, sind in einem komplexen Konzert gemeinsam mit Hormonen wie Prolactin und Testosteron da- ran beteiligt. Letztere beeinflussen auch die Schwelle zum Weinen: Ist diese sehr niedrig, sagt der Volksmund, er oder sie sei nah am Wasser gebaut“, erläutert Prof. Mardin. „Doch auch die kulturelle und geschlechtliche Kondi- tionierung, die Persönlichkeitsstruktur und nicht zuletzt die biografische Prägung sind we - sentliche Voraussetzungen für die Fähigkeit des Weinens.“ Ob ein Mensch zu den ‚Weinern‘ oder zu den ‚Nicht-Weinern‘ gehört, ist somit von einer Vielzahl an Einflüssen abhängig – auch die soziale Schicht und sogar der Beruf gehören dazu. → Weinen ist wie ein nonverbaler Reset.

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