Gesundheit erlangen - Herbst 2023

| 49 Kopfsache KOPFSACHE Ist Ihre Wohnung auch immer so gründlich geputzt, wenn Sie eigentlich die Steuererklärung abgeben sollten? Dass wir lieber etwas erledigen, das uns ein schnelles Erfolgserlebnis beschert, statt unangenehme Aufgaben anzupacken – ist menschlich. Wann Prokrastination zum Problem wird und wie der Ausweg aus der Aufschieberitis gelingt, erfahren Sie hier. INTERVIEW VON BARBARA MESTEL Herr Prof. Kornhuber, Hand aufs Herz: Vor welcher Aufgabe haben Sie sich schon einmal gedrückt? [lacht] Auf meinem Schreibtisch sammeln sich immer wieder einmal kleinere Stapel mit Schriftstücken, die ich unnötig „reifen“ lasse. Ob Steuererklärung, Abschlussarbeit oder die Entrümpelung des Kellers: Warum verschieben wir solche To-dos immer und immer wieder? Meist handelt es sich um große Aufgaben, die unscharf umrissen und für uns negativ behaftet sind. Zudem ist der Erfolg nicht garantiert und wir fürchten, zu scheitern. Aus Angst entscheiden wir uns deshalb dafür, lieber etwas anderes zu machen. Wir saugen die Wohnung. Das ist ein gutes Beispiel für ein passives Prokrastinationswerkzeug, also eines, für das Sie sich entscheiden. Immerhin freuen Sie sich dann über die sauberen Räume und haben ein Erfolgserlebnis. Bedenklicher finde ich die aktiven Prokrastinationswerkzeuge, die wir alle auf unseren Smartphones ständig mit uns herumtragen. Aktiv, weil Social Media quasi für uns entscheidet. Die Apps sind so konzipiert, dass wir möglichst lange vor dem Bildschirm bleiben. Nach einem Video ist nicht Schluss, sondern es folgt direkt das nächste – ohne dass wir das durch einen Klick selbst entschieden haben. Es gibt kein Ende. Und obwohl wir es eigentlich besser wissen, prokrastinieren wir trotzdem. Was steckt dahinter? Wir wollen unsere Gefühle regulieren, uns emotional stabilisieren. Die anstehende Aufgabe ist uns unangenehm; allein der Gedanke daran löst negative Empfindungen bei uns aus. Dem wirken wir entgegen, indem wir etwas tun, bei oder nach dem wir uns gut fühlen. Das ist evolutionär bedingt: Die Gegenwart erscheint uns (über-)lebenswichtiger als die Zukunft. Wir wollen uns jetzt wohlfühlen und nicht erst in ein paar Tagen oder Wochen. Sind in dieser Hinsicht alle Menschen gleich? Grundsätzlich ja, aber ausgeprägte und belastende Prokrastination wird tatsächlich nur bei etwa → Prof. Dr. Johannes Kornhuber ist Direktor der Psychiatrischen und Psychotherapeutischen Klinik des Uniklinikums Erlangen. Er beobachtet in allen Lebensbereichen regelmäßig Prokrastination und hat für sein Team Strukturen etabliert, die ewiges Aufschieben verhindern.

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