| 51 Herr Prof. Kornhuber, warum interessiert Sie das Thema Kreativität? Zum einen beschäftigt es mich als Arzt, weil wir in der Psychiatrie Patientinnen und Patienten haben, bei denen die Kreativität vermindert ist – zum Beispiel bei einer Depression. Andererseits kann die Kreativität aber auch verstärkt sein, beispielsweise in der manischen Phase einer bipolaren Störung, in der oft ungefiltert enorm viele Ideen produziert werden. Außerdem habe ich ein Interesse als Wissenschaftler, denn auch in der Forschung gilt es, kreativ zu sein. Als Klinikdirektor möchte ich natürlich kreative Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an unsere Klinik holen. Und zu guter Letzt interessiere ich mich privat für Kunst. Wie würden Sie Kreativität definieren? Der Standarddefinition nach ist etwas Kreatives etwas, das originell und gleichzeitig nützlich ist. Ein dritter Faktor wäre, dass es noch dazu überraschend ist. Dies gilt für die Wissenschaft genauso wie für die Kunst, also für alle kreativen Domänen. Eine Kreativitätshypothese beschäftigt sich mit dem Denken: Beim divergenten Denken sammelt man zunächst ganz frei möglichst viele Ideen. Da geht es um die besagte Originalität. Beim konvergenten Denken nimmt man sich dann die einzelnen Ideen vor und prüft, wie brauchbar sie sind. Hier geht es um die Nützlichkeit. Eine zweite Hypothese geht eher vom kreativen Prozess aus: Zuerst erkennt man ein Problem, dann reift es – das nennt sich Inkubation. Dann folgt die Illumination – die Erleuchtung, wie das Problem zu lösen wäre, und am Ende kommt die Verifikation – also die Überprüfung der Lösung anhand der realen Welt. Sprich: Ist das, was mir da eingefallen ist, sinnvoll? Erleuchtung hört sich nach dieser einen genialen Idee an. Wie führt man die herbei? Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen, dass sie plötzlich diesen einen Einfall hatten. Oft kann das nach dem Schlafen passieren oder auch im Traum. Zum Beispiel hat der Chemiker August Kekulé die Struktur des von ihm entKopfsache deckten Benzolrings geträumt. Schlaf und unbewusstes Denken sind also sehr wichtig für den Prozess der Inkubation. Ist jeder Mensch kreativ? Im Prinzip hat jeder dieses Potenzial. Wir unterscheiden aber zwischen „Small C“ und „Big C“ – also der kleinen und der großen Kreativität. Small C meint die Alltagskreativität, wenn zum Bespiel kein Standardgericht gekocht wird, sondern etwas Ausgefallenes, oder wenn die Wohnung besonders eingerichtet wird. Big C bezeichnet weltweit einzigartige Werke oder Produkte – zum Beispiel herausragende Gemälde, Musikstücke oder Erfindungen. Hat Kreativität grundsätzlich etwas mit der Persönlichkeit zu tun? Ja, beides hängt zusammen. Kreativitätsfördernd sind Offenheit für Erfahrungen, Beharrlichkeit und intrinsische Motivation. Dass also nicht nur der Chef sagt ‚Mach mal‘, sondern dass ich ein eigenes Interesse an etwas habe. Dabei spielt auch Selbstwirksamkeit eine Rolle, also dass ich einen Unterschied machen kann. Risikobereitschaft – in Maßen – ist der Kreativität ebenfalls zuträglich. In der Wissenschaft ist sie außerdem mit Gewissenhaftigkeit assoziiert. Also: Wer dranbleibt, findet eher kreative Lösungen. In der Kunst ist eher Offenheit wichtig. Auch eine positive Stimmung fördert das Kreativsein. Von welchen Faktoren hängt die Schöpferkraft noch ab? Es gibt insgesamt vier Ps. Das erste ist die Person mit all ihren Eigenschaften. Das zweite ist der kreative Prozess, den ich vorhin beschrieben habe – von der Problembeschreibung bis hin zur Erleuchtung. Das dritte ist der Ort, also Place. Hat man zum Beispiel in einer Einrichtung die richtige Gruppe von interessanten Personen, die miteinander diskutieren? Oder ist man zur richtigen Zeit am richtigen Ort? Ein Renaissancekünstler war zum Beispiel in Florenz sehr gut aufgehoben. Der Ort kann aber auch dazu führen, dass Künstler nicht frei sind, etwa durch Zensur. Der vierte →
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