Gesundheit erlangen - Winter 2023/24

52 | Kopfsache Fortsetzung von S. 51 anderen rangelt und sich dabei wehtut, spürt es ganz körperlich, was es bedeutet, Schmerzen zu haben, eine Grenze zu überschreiten. Es spürt, wann es genug ist. In einem Ballerspiel kann es am Bildschirm mit einem Klick Gewalt ausüben – immer wieder, ohne Konsequenzen, ohne körperliche Rückkopplung. Körperliches Erleben ist demzufolge sehr wichtig für die Entwicklung von Heranwachsenden. Was gehört noch alles dazu? Vor allem geht es um Bewegung, und die sollte es so oft und so viel wie möglich geben! Statt herumzutoben sitzen Kinder aber heute den ganzen Tag in beengten Räumen, was ihnen überhaupt nicht entspricht. Zwischen Bewegungsmangel, Schlafstörung und Depression gibt es ganz eindeutige Zusammenhänge. Mit mehr Aktivität an der frischen Luft wäre sehr viel gewonnen. Ebenso wichtig sind soziale Kontakte und Berührungen. Unser Gehirn hat ein eigenes sensorisches Nervensystem für zarte Berührungen, weil die für die menschliche Entwicklung so entscheidend sind. Sein Baby herumzutragen, das Kind zu streicheln, zu umarmen – das ist alles essenziell. Es war einer der größten negativen Effekte der Coronapandemie, dass wir uns nicht mehr nah sein konnten. Wie helfen Sie jungen Menschen in der Erlanger Kinderpsychiatrie? Wir behandeln vor allem Kinder und Jugendliche mit Angststörungen, Depressionen, Essstörungen, Traumastörungen und Computerspielsucht. Wir versuchen, ihnen so viel wie möglich mitzugeben und sie so stark zu machen, dass sie in ihrem Alltag wieder zurechtkommen. Wir bringen ihnen bei, echte Erlebnisse zu schaffen und Dinge anzugehen, obwohl sie Ängste haben. Viele unserer Patientinnen und Patienten möchten nicht mehr weg von uns, weil es ihnen hier so gut geht wie noch nie. Viele bräuchten danach eine ambulante Weiterbehandlung oder ein Angebot der Kinder- und Jugendhilfe. An beidem fehlt es leider oft. In den vergangenen 20 Jahren konnte ich unsere stationären Behandlungsplätze von 20 auf 88 erhöhen – doch auch das reicht immer noch nicht aus, um den Bedarf zu decken. Dabei dürfte es eigentlich gar keine Kinder mit psychischen Störungen geben. Wie meinen Sie das? Man muss das bestehende Reparatursystem zu einem echten Gesundheitssystem umbauen und früher ansetzen – in den Familien, bei schwangeren Frauen, im Kleinkindalter, sodass sich schädliches Verhalten und psychische Störungen erst gar nicht entwickeln. Je früher und je intensiver wir gegensteuern, desto besser ist das für die Gesundheit unserer Kinder. Jedes Kind hat das Recht, gesund und in körperlicher und finanzieller Sicherheit aufzuwachsen. Und wenn die Umstände einfach schlecht sind? Dann stärken wir in erster Linie die Resilienz des Kindes. Die setzt sich vor allem aus drei Bausteinen zusammen. Erstens: Ehrfurcht vor dem Leben. Das heißt: Ich verhalte mich menschlich und friedfertig – allem Lebendigen gegenüber, egal ob Mensch, Tier oder Natur. Zweitens: Naturverbundenheit. Im Einklang mit der Natur zu leben, macht mich körperlich und seelisch widerstandsfähiger. Drittens: Prosozialität. Ich bin eingebunden in ein soziales Gefüge, fühle mich zugehörig und anerkannt. Medien vermitteln Kindern, dass man heute alles ganz schnell bekommen kann. Aber alles Wichtige braucht Zeit, zum Beispiel eine Freundschaft oder eine erste Liebe aufzubauen und Vertrauen zu fassen. Prof. Dr. Gunther Moll

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