50 | Kopfsache Fortsetzung von S. 49 Erwartungen anderer abzugleichen. Es hilft, sich zu fragen, ob man aus Verpflichtung oder echter Motivation handelt, und sich daran zu erinnern, dass Selbstfürsorge keine Selbstsucht ist. Entscheidend ist aber, entsprechende Techniken zum Aufzeigen der eigenen Grenzen einzuüben – zum Beispiel zu Hause vor dem Spiegel oder in unverfänglichen Situationen. Welche Techniken sind das? Essenziell ist, wertschätzend Nein zu sagen. Das heißt, Verständnis für die Bitte meines Gegenübers zu zeigen und höflich zu erklären, warum ich dennoch ablehnen muss. Verneine ich zu schroff, mache ich mir im Nachgang vielleicht Gedanken, ob ich nicht hätte anders antworten sollen. Kleine Schritte wie „Ich melde mich später dazu“ oder „Ich muss erst darüber nachdenken“ helfen, Abstand zu gewinnen. Auch Alternativen oder Kompromisse anzubieten, kann die Ablehnung erleichtern. Wichtig ist, sich nicht in Rechtfertigungen zu verlieren. Eine Begründung wie „Im Moment bin ich mit etwas anderem beschäftigt, das ich gerne zu Ende bringen möchte“ ist ausreichend. Es hilft, sich bewusst zu machen, dass Nein ein ganzer Satz ist. Denn auch für ein Ja muss ich mich nicht rechtfertigen. Darüber hinaus lohnt es sich, genau hinzusehen: Besonders im beruflichen Kontext zeigen sich häufig wiederkehrende Situationen, in denen mein Ja erwünscht ist, ich aber aus den immer gleichen Gründen ablehnen muss. Wenn ich diese Situationen erkenne, fällt es mir unter Anwendung der genannten Techniken im Regelfall leichter, Nein zu sagen. Können Sie Beispiele aus Ihrem Berufsalltag nennen? Ein häufiges Muster ist der sogenannte Röhrenblick. Fordert zum Beispiel eine meiner Mitarbeiterinnen mehr Ressourcen für ihren Bereich, also mehr Mitarbeitende oder mehr Freiraum für Entscheidungen, ist das natürlich verständlich. Als Klinikdirektor muss ich aber das gesamte System im Gleichgewicht halten und einen Röhrenblick vermeiden. Gebe ich einem Bereich mehr Ressourcen, muss ich sie in einem anderen womöglich reduzieren. In diesem Fall muss ich also verneinen. Ein anderes Beispiel, das mir hin und wieder begegnet, ist das Prinzip der Rückdelegation. Delegiere ich eine Aufgabe an einen Mitarbeitenden und diese landet letztendlich wieder auf meinem eigenen Tisch, muss ich ablehnen, die Aufgabe zu meiner eigenen zu machen. Als Führungskraft habe ich ja eine Vorbildfunktion, muss Aufgaben verteilen und sie auch an der jeweiligen Stelle belassen. Nur so fördere ich die Eigenverantwortung meiner Mitarbeitenden. Was, wenn ich es nicht schaffe, jemandem mein Nein persönlich mitzuteilen? Im direkten Gespräch oder auch am Telefon fällt es den meisten Menschen sicher viel schwerer abzulehnen als beispielsweise in einer E-Mail. Ich empfehle, achtsam mit den eigenen Ressourcen umzugehen. Werde ich im persönlichen Gespräch um etwas gebeten, das ich gerade nicht erfüllen kann, und es fällt mir schwer, direkt abzulehnen, ist auch eine freundliche Absage per E-Mail am nächsten Tag in Ordnung. Im persönlichen Gespräch bin ich zudem eher mit Argumenten meines Gegenübers konfrontiert, was letztlich ja auch in einer Diskussion oder einem Konflikt enden kann. Eine im Journal of Personality and Social Psychology veröffentlichte Studie konnte 2023 zeigen, dass das Ablehnen von Einladungen oder Bitten oft weniger negative Konsequenzen hat als befürchtet. Viele Menschen überschätzen die negativen Reaktionen, die auf ein Nein folgen könnten.
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