Gesundheit erlangen - Frühling 2024

Das kostenlose Magazin des Uniklinikums Erlangen | www.gesundheit-erlangen.com | Frühling 2024 ■ Hirntumoren präzise und sicher entfernen ■ Minimalinvasive OP der Hirnanhangdrüse ■ Epilepsie: Medikament oder OP? Schnittstelle Gehirn Hoffen auf ein Herz Die kleine Lena wartet auf ein Spenderorgan Mutiger Kampf Mit CAR-T-Zellen gegen Sklerodermie Chaos im Kopf Wie sich ADHS bei Erwachsenen äußert

Poster-Bestellnummer: 35700701 David Jakle/Image Source via Gety Images

| 3 „Manchmal habe ich 50 Webseiten gleichzeitig offen, versuche sie zu gruppieren und habe immer das Gefühl, noch mehr wissen zu wollen. Aber ich habe keine Ahnung, wo ich eigentlich anfangen soll“, erzählte mir kürzlich eine Freundin, die sich gerade intensiv mit künstlicher Intelligenz beschäftigt. Nicht nur an ihrem Computerbildschirm, auch in ihrem Gehirn sind permanent sehr, sehr viele Fenster geöffnet. Sie sagt, dass sie sich innerlich unruhig fühle und oft schlecht schlafe. Das mit dem Beinwippen habe sie sich abgewöhnt. Stattdessen hat sie jetzt einen Fingerring mit kleinen kupferfarbenen Perlen, die sie hin- und herschieben kann, um ihre Anspannung zu senken. Was sie auch seit Kurzem hat, ist eine ADHS-Diagnose – und zwar eine deutliche. Ihr NoiseCancelling-Kopfhörer ist für meine Freundin die Erfindung des Jahrtausends, das Homeoffice, in dem sie sich selbst organisieren kann, ein Segen. Denn häufig ist für sie zu laut, zu voll, zu hell und zu warm, was andere gar nicht als störend empfinden. Grund ist die neurobiologische „Standardeinstellung“ ihres Gehirns, das andauernd mehr Reize durchlässt, als ihm eigentlich lieb ist. Alles erscheint gleich wichtig. Sich auf das zu konzentrieren, was gerade gesagt wird, und dabei nicht abzuschweifen, jemandem nicht ins Wort zu fallen, persönliche Gegenstände nicht zu verlegen, nicht emotional überzureagieren, wenn ihr etwas gegen den Strich geht – all das ist für meine Freundin sehr anstrenZu viel auf einmal Editorial Chefredakteurin von „Gesundheit erlangen“ gend. Und jetzt wissen wir auch, wa- rum. Es könne sein, dass sie demnächst im gemeinsamen Urlaub mal ihre Jacke, ein Kissen oder andere Dinge vor Wut auf den Boden werfe. Manchmal sei der Impuls, zu reagieren, einfach stärker und schneller als das Verstehen dessen, was eigentlich gerade passiert ist. Ich bin jetzt vorbereitet und habe mit ihr vereinbart, dass im Urlaub maximal weiche Sachen geworfen werden ... Darüber mussten wir beide lachen. „ADHS ist eine Erklärung, aber keine Entschuldigung für alles“, sagt auch Dr. Tanja Richter-Schmidinger, Psychologin am Uniklinikum Erlangen, in unserem Artikel auf Seite 50. Die ADHS-Dia- gnose hilft, Verhalten einzuordnen und auch die positiven Seiten, die diese Andersartigkeit oft mit sich bringt, zu sehen und wertzuschätzen: Ideenreichtum, Begeisterungsfähigkeit und Interesse an vielen Dingen, Spontaneität, Direktheit und kritisches Denken über den Tellerrand hinaus. Ich wünsche Ihnen viele neue Erkenntnisse beim Lesen dieser Ausgabe, in der Sie neben einem ADHS-Betroffenen noch viele andere Patientinnen und Patienten mit ihren besonderen Geschichten kennenlernen werden. Unglaubliche Entdeckung Jemand kommt wegen eines Fahrradsturzes und eines gebrochenen Knochens ins Krankenhaus – doch plötzlich wird bei einem MRT des Kopfes noch ein ganz anderes Problem sichtbar. Die Grenzen zwischen Glück und Unglück sind oft verschwommen, wie unsere Patientengeschichte auf Seite 10 zeigt.

4 | Themen dieser Ausgabe HOFFEN AUF EIN HERZ Die zweijährige Lena wartet auf ein Spenderorgan. Bis dahin lebt sie mit einem 13 Kilo schweren Kunstherz. Am Uniklinikum Erlangen darf sie damit sogar nach Hause. MEDIZIN MIT KÖPFCHEN Egal ob Hirntumor, Aneurysma, Epilepsie oder Wirbelsäulenerkrankung: In der Neurochirurgie des Uniklinikums Erlangen gibt es Hilfe. 3 Editorial NEUES AUS DEM UNIKLINIKUM 6 Partner der Gesundheitsmesse Bamberg 7 Neue Hightech-Herzkatheteranlage für Kinder TITEL 8 Schnittstelle Gehirn Was die Erlanger Neurochirurgie leistet 10 Etwas, was da nicht hingehört Operation eines Hirntumors 14 Durch die Nase zum Gehirn Minimalinvasive Hypophysenchirurgie 18 Der Kampf gegen den Krampf Hilfe bei Epilepsie FEATURE 20 Der Samurai und die Sklerodermie CAR-T-Zellen gegen Autoimmunerkrankungen MEDIZIN 26 Sprechstunde Durchblick bewahren 30 Leicht reizbar Moderne Therapien gegen Neurodermitis 34 Medien Das bleibt im Kopf 36 Mittel der Wahl Pflaster 37 Kleine Sp[r]itze – Kolumne Sitzen Sie noch oder gehen Sie schon? MENSCHEN 38 Meine Geschichte Die kleine Lena wartet auf ein Spenderorgan 42 Zwei Seiten von Zahnmediziner Prof. Dr. Stephan Eitner 44 Meine Gesundheit Kinderonkologe Prof. Dr. Markus Metzler 38 8–19

| 5 Themen dieser Ausgabe Video Weiterführende Informationen Kontaktaufnahme Persönlicher Kontakt zur Redaktion ERNÄHRUNG 46 Grüner Powerkick Die gesunde Kraft von Spinat 48 Wie viel Eiweiß brauchen wir? Für wen High-Protein-Produkte geeignet sind KOPFSACHE 50 Chaos im Kopf Wie sich ADHS bei Erwachsenen äußert ERFORSCHT UND ENTDECKT 45 Intensivstation: Angehörige als Teil der Therapie 55 Zukunftspreis für ein neues MRT AKTIV LEBEN 56 Locker vom Hocker Mit aktivem Sitzen mehr Bewegung in den Alltag bringen ZUM SCHLUSS 60 Auf den Punkt gebracht 61 Rätsel | Gewinnspiel 62 Vorschau | Impressum CHAOS IM KOPF ADHS ist keine „Kinderkrankheit“. Einige Menschen bekommen die Diagnose erst als Erwachsene. KAMPF GEGEN SKLERODERMIE Innerhalb weniger Wochen zwang die Systemische Sklerose Stefan K. in die Knie. Mithilfe von CAR-T-Zellen hat er mutig den Kampf gegen die Krankheit aufgenommen. 20 50

6 | Neues aus dem Uniklinikum Die 18. Gesundheitsmesse „franken aktiv & vital“ informiert vom 8. bis 10. März 2024 in der Brose-Arena Bamberg über eine aktive und gesunde Lebensgestaltung. Auf die Besucherinnen und Besucher warten da- rüber hinaus ein Kinderprogramm und spannende Fachvorträge. Das Uniklinikum Erlangen ist auch dieses Jahr wieder Hauptpartner der Messe und präsentiert sich an einem Gemeinschaftsstand. Bei der HalsNasen-Ohren-Klinik – Kopf- und Halschirurgie dreht sich alles um gutes Hören und gesunden Schlaf. Das Hörzentrum Nordbayern bietet einen Hörtest an und stellt modernste Hörgeräte vor. Das Cochlear-ImplantCentrum CICERO informiert darüber, warum OP und Nachsorge bei der CI-Versorgung eng aufeinander abgestimmt sein müssen. Auch die Bamberger HNOZweigstelle des MVZ Eckental stellt sich vor. Besuche8. bis 10. März 2024 – Stände und Vorträge aus dem Uniklinikum Erlangen Gesundheitsmesse in Bamberg rinnen und Besucher können außerdem ein RiesenOhrmodell betrachten. Moderne Therapieverfahren in der Arthrosebehandlung werden am Stand der Unfallchirurgischen und Orthopädischen Klinik präsentiert. Wie Kinder schonend behandelt und operiert werden können, darüber informiert die Kinderchirurgische Abteilung. An einem Endoskopieturm können Kinder Gummibärchen aus einer Bauchhöhle herausoperieren. Auf dem Vortragsprogramm stehen u. a. die Themen Hörgeräteversorgung, Sprachentwicklung bei Kindern, Endoprothetik und ambulante Kinderchirurgie. Gesundheit, Sport, Bewegung, Reha, Pflege, Mobilität, Bio-Produkte, gesunde Ernährung, Reisen, Freizeit, Wellness & Beauty, Männergesundheit DAS PERFEKTE IMMUNSYSTEM präsentiert von Forchheimer Str. 15, 96050 Bamberg Öffnungszeiten: Fr 14-20 Uhr, Sa & So 10-18 Uhr 08.-10.03.2024 Bamberg www.franken-aktiv-vital.de SONDERTHEMA: Möglichkeiten der individuellen Krisenvorsorge, Wege zur Selbstversorgung & Autarkie, Superfood & Indoor farming Hotline: 0951 / 180 70 500 Ein Projekt der MTB Messeteam Bamberg GmbH Begleitende Fachvorträge Anzeige Gesundheitsmesse „franken aktiv & vital“ www.franken-aktiv-vital.de

| 7 Neues aus dem Uniklinikum In der Kinderkardiologischen Abteilung des Uniklinikums Erlangen wurde Ende 2023 eine neue hochmoderne Herzkatheteranlage für Kinder und Jugendliche installiert. Am Uniklinikum Erlangen werden jedes Jahr rund 100 Neugeborene mit angeborenem Herzfehler behandelt. Bei etwa der Hälfte der betroffenen Babys geht das – ohne Operation – besonders schonend mittels Herzkatheter über die Leiste. „Dass von allen Herzkatheteruntersuchungen und -interventionen, die in Deutschland bei Menschen mit angeborenen Herzfehlern gemacht werden, knapp 80 Prozent auf Kinder entfallen, macht deutlich, welche Bedeutung kinderspezifische Herzkatheterlabore haben“, betont Prof. Dr. Sven Dittrich, Leiter der Kinderkardiologie. „Wir freuen uns deshalb umso mehr über unsere neue Hightech-Angiografieanlage, von der unsere Patientinnen und Patienten sehr profitieren werden.“ Ein vergleichbares System gibt es bayernweit nur noch in München Neue Hightech-Herzkatheteranlage für Kinder Die große Besonderheit des neuen Erlanger Systems: Integrierte Live-Ultraschallbilder des Herzens erleichtern den Behandlungsablauf und machen ihn – angepasst an den kindlichen Körper – noch präziser. „Wir sparen dank der neuen Anlage nicht nur Röntgenstrahlung ein, sondern erweitern auch unser Blickfeld“, erklärt der Kinderkardiologe. Das neue Gerät erlaubt es, auch Magnetresonanztomografie- und Computertomografie-Bilder in den laufenden Eingriff zu integrieren. „Insbesondere dank der Kombination aus Ultraschall- und Röntgentechnik können wir ab sofort weitere neue Behandlungstechniken entwickeln und schon vorhandene verbessern. Die neue Anlage beinhaltet alle heute verfügbaren modernen technologischen Modalitäten.“ Die Gesamtkosten belaufen sich inklusive der Installation auf ca. 1,5 Millionen Euro. Ein vergleichbares System gibt es bayernweit aktuell nur noch in München. In der neuen Herzkatheteranlage werden Kinder und Jugendliche präziser und schonender versorgt.

8 | Titel NEUROCHIRURGIE Egal ob großer Bandscheibenvorfall, Epilepsie, Hirn- aneurysma oder Tumor – die Expertinnen und Experten der Neurochirurgie des Uniklinikums Erlangen helfen weiter. VON FRANZISKA MÄNNEL Schnittstelle Gehirn Ausstrahlende Nervenschmerzen und Lähmungserscheinungen im Bein, unkontrollierbare epileptische Anfälle oder plötzliche Sprachstörungen – sie alle können einen neurochirurgischen Eingriff rechtfertigen. Prof. Dr. Oliver Schnells Engagement für seine Patientinnen und Patienten geht allerdings über den OP-Saal hinaus. Der Direktor der Neurochirurgischen Klinik des Uniklinikums Erlangen möchte Betroffenen eine umfassende Begleitung bieten – von der ersten Vorstellung in der Sprechstunde bis hin zur Nachsorge. Und er will Mythen ausräumen, vor allem die rund um HirnOPs. „Zum Beispiel ist die Annahme, dass sich die Persönlichkeit und die geistige Leistungsfähigkeit durch einen Eingriff am Kopf in jedem Fall verändern, einfach nicht richtig“, sagt er. Seit Oktober 2023 leitet Prof. Schnell die Neurochirurgie des Uniklinikums Erlangen. Er und sein Team operieren Gehirn und Schädel, aber auch Rückenmark und Wirbelsäule. Dabei nutzen sie immer wieder neue innovative Techniken für die OP-Planung und -Umsetzung. „Unsere Schnitte werden kleiner, die Eingriffe gezielter und künftig teilweise auch roboterunterstützt“, so der Klinikdirektor. Entsprechend schneller werden Patientinnen und Patienten wieder entlassen. „Heute verlegen wir bei Weitem nicht mehr jeden, der am Gehirn operiert wurde, danach auf die Intensivstation“, erklärt Prof. Schnell. „Viele kommen lediglich in den Aufwachraum, dann auf die Normalstation und oft nach wenigen Tagen wieder nach Hause.“ Wach während der Hirn-OP Seit vielen Jahren ist das Uniklinikum Erlangen auf die neurochirurgische Behandlung von Epilepsie (s. S. 18) und von Erkrankungen der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) spezialisiert (s. S. 14). Aber auch Menschen mit Hirntumoren finden hier eine zen- trale Anlaufstelle (s. S. 10). „Das Gute ist unsere Interdisziplinarität“, betont Prof. Schnell. „Wir ha-

| 9 Titel ben hier neben Neurochirurgie eben auch Neuroradiologie, Neurologie, Neuropathologie, Strahlentherapie, Onkologie, Kinderheilkunde und andere, die in Tumorboards zusammenkommen. Insbesondere bei Krebspatientinnen und -patienten möchte ich es vermeiden, dass sie hier bestrahlt und dort operiert werden und wieder woanders ihre Chemotherapie bekommen. Bei uns geht das alles am selben Ort.“ Dank moderner Bildgebung – auch während einer OP – erkennen die Ärztinnen und Ärzte immer genau, wo ein Tumor liegt und was der beste Weg ist, um ihn zu entfernen. Um dabei zentrale Hirnfunktionen wie Sprache, Motorik und Gedächtnis zu schützen, sollen in der Erlanger Neurochirurgie bald Wachoperationen durchgeführt werden, bei denen der Patient bei Bewusstsein bleibt. So kann er während des Eingriffs verschiedene Tests ausführen – zum Beispiel den Arm heben, seinen Namen sagen oder einen abgebildeten Gegenstand benennen. Auch in der knöchernen unteren Schale des Kopfes – der hinteren Schädelgrube, in der das Kleinhirn ruht – können sich Tumoren oder Zysten bilden. Diese Veränderungen der Schädelbasis werden heute immer häufiger endoskopisch statt offen operiert. Hierzu führen die Neurochirurginnen und -chirurgen vorsichtig ein Endoskop ins Innere des Kopfes, an dessen Ende sich eine kleine Kamera und eine Lichtquelle befinden. So lässt sich das OPFeld präzise an einem Monitor visualisieren. Von der Forschung in die Klinik Weil Oliver Schnell seine Patientinnen und Patienten als Erste von neuen Forschungsergebnissen profitieren lassen will, hat er eine eigene Professur für Translationale Neurochirurgie eingerichtet. Sie wird aktuell besetzt und soll neue Studienergebnisse rasch in die Klinik bringen. Wie beeinflussen Tumoren das hirneigene Immunsystem und wie sieht das auf Molekülebene aus? Warum sprechen manche Krebsarten schlecht auf Standardtherapien an? Wie können Betroffene optimal auf ihre chirurgische und medikamentöse Behandlung vorbereitet werden? Diese und andere Fragen soll der neue Schwerpunkt beantworten. Und schlussendlich steht die Erlanger Neurochi- rurgie auch bei Notfällen rund um die Uhr bereit – sei es eine unfallbedingte Hirnblutung, ein Schlaganfall oder ein gefährlicher Aneurysmariss, der sich oft durch stärkste Kopfschmerzen, Übelkeit und Bewusstseinsstörungen äußert. Im Bereich der hirnversorgenden Gefäße arbeiten Prof. Schnell und sein Team insbesondere mit dem Neuroradiologischen Institut eng zusammen. „Wir sind chirurgisch und intensivmedizinisch immer vorbereitet“, versichert er. OP-Mikroskope wie das, an dem Prof. Schnell hier sitzt, gehören zu den wichtigsten neurochirurgischen Instrumenten. Durch die Optik hindurch ist das Operationsfeld zu sehen – gestochen scharf und stark vergrößert. Seit dem 1. Oktober 2023 leitet Prof. Dr. Oliver Schnell die Neurochirurgische Klinik des Uniklinikums Erlangen.

10 | Titel NEUROONKOLOGIE Hirntumoren sind mehr als nur gut- oder bösartig. Manche fallen durch Kopfschmerzen oder Sprachprobleme auf, andere rein zufällig. Sie genau zu klassifizieren, ist wichtig für eine erfolgreiche Therapie. VON FRANZISKA MÄNNEL Etwas, was da nicht hingehört „Letztes Jahr ist viel passiert“, erzählt Markus B. Im Juli 2023 heiratete der heute 31-Jährige seine Freundin, im September wurden die beiden zum ersten Mal Eltern. Kurz darauf stürzte der junge Vater mit dem Fahrrad, fiel über den Lenker, brach sich das Schlüsselbein und musste operiert werden. Schließlich saß er im Oktober 2023 am Uniklinikum Erlangen Neurochirurg Prof. Dr. Oliver Schnell gegenüber und fragte: „Muss ich sterben?“ Weil durch den Schlüsselbeinbruch ein Nerv verletzt worden war, hatte Markus B. eine anhaltende Taubheit im Arm gespürt. Seine Neurologin hatte Auffälligkeiten bei der Nervenleitgeschwindigkeit festgestellt und ihn ans Uniklinikum Erlangen überwiesen. „Hier haben sie mein Patient Markus B.

| 11 Titel Nicht einfach gut oder böse Die Neuroonkologie, also die Diagnostik und Behandlung von Hirn- und Rückenmarkstumoren, ist der klinische und wissenschaftliche Schwerpunkt von Klinikdirektor Prof. Schnell. „Am Uniklinikum Erlangen operieren wir Tumoren im Gehirn, an der Hirnanhangdrüse und am Schädelknochen, aber auch Hirnmetastasen, die von einem anderen Organ ausgehen“, sagt er. Hirntumor ist nicht gleich Hirntumor, das ist dem Spezialisten wichtig zu betonen. So hätten etwa Meningeome – mehrheitlich gutartige Veränderungen, die aus den Hirnhäuten entstehen – oft eine gute Prognose, Glioblastome eine schlechte. „Allerdings verwende ich die Unterscheidung in gut- und bösartig nicht so gern, weil das immer relativ ist. Auch ein gutartiger Tumor, der innerhalb des Schädels wächst, kann lebensbedrohlich werden. Gutartig heißt erst einmal nur, dass er keine Metastasen erzeugt und nicht unkontrolliert in das umgebende Gewebe hineinwächst. Aber er fordert Raum. Eine Bauchdecke kann sich dehnen – ein Schädel nicht.“ Durch Neuro-Landschaften navigieren Um Veränderungen im Gewebe zu beurteilen, können Neurochirurginnen und -chirurgen → Schlüsselbein noch einmal operiert und sicherheitshalber auch ein CT und ein MRT von meinem Kopf gemacht, um auszuschließen, dass die Ausfallerscheinungen von dort kommen“, schildert der Patient. „Vor der Besprechung der Ergebnisse wurde ich gefragt, ob ich Angehörige dabeihabe. Ich sagte: Ja, meinen Bruder.“ Markus B. erinnert sich, wie Klinikdirektor Prof. Schnell ihm erklärte, dass da etwas in seinem Kopf sei, was da nicht hingehöre. Ein knapp vier Zentimeter großes Oligodendrogliom, ein Tumor in seinem linken Stirnlappen – gutartig zwar, aber mit der Gefahr, über kurz oder lang seine Sprache zu beeinträchtigen, andere neurologische Ausfälle zu erzeugen oder gar bösartig zu werden. Plötzlich stand eine Hirn-OP im Raum. Dabei hatte er doch nur einen Fahrradunfall gehabt. „Im Nachhinein bin ich aber froh, dass sie den Tumor zufällig entdeckt haben“, sagt Markus B. „Wer weiß, was in fünf Jahren gewesen wäre. Ich war sofort dafür, den Eingriff von Prof. Schnell machen zu lassen.“ Das Gliom war bereits bis an funktionelle Hirnareale herangewachsen. Um diese zu schützen, trug der Neurochirurg nicht zu viel Gewebe ab. Stattdessen sollen nun Bestrahlung und Chemotherapie die verbliebenen Spuren des Tumors beseitigen. Nach der OP fühlte sich Markus B. gut; nur hin und wieder sei er vielleicht ein bisschen vergesslicher als früher. „Ich bin superzufrieden, wie alles gelaufen ist, und froh, dass der Hirntumor nicht vererbt wird. Um unseren Sohn brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.“ Hier operieren Klinikdirektor Prof. Schnell (l.) und Oberarzt Dr. Sven-Martin Schlaffer gemeinsam. „Wir machen das immer wie Pilot und Co-Pilot im Vier-Augen-Prinzip“, erklärt Oliver Schnell.

12 |Titel Hirntumoren leuchten rot-violett Eine Methode, die der neue Klinikdirektor in Erlangen eingeführt hat, ist die 5-ALA-Fluoreszenz- Mikroskopie. Ein vor dem Eingriff getrunkenes Medikament reichert sich dabei in Krebszellen an und lässt sie unter dem OP-Mikroskop rot-violett leuchten. So sind sie besser sichtbar und von gesundem Gewebe gut zu unterscheiden. Manchmal wird auch ein Stück verdächtiges Hirngewebe entnommen, um es genauer zu untersuchen. Diese Histologie geschieht normalerweise in der Neuropathologie: Hier wird die Probe in Paraffin gebettet, mikrometerdünn geschnitten, auf einen gläsernen Objektträger aufgebracht, eingefärbt und unter dem Mikroskop beurteilt. Bis das Ergebnis dieses Schnellschnitts im OP ankommt, vergehen mindestens 20 Minuten. Die Alternative: „Mit einem Laser machen wir aus der Probe noch im OP eine digitale Histologie. Die Art, wie das Laserlicht mit den Molekülen im Gewebe interagiert, verrät nämlich etwas über dessen Zusammensetzung. Diese Methode dauert nur fünf Minuten“, sagt Prof. Schnell. „Studien haben gezeigt, dass beide Histologieverfahren – das klassische und das digitale – hohe Übereinstimmungen haben. Wir wollen die neue Variante deshalb intensiver diagnostisch nutzen.“ OP-Planung und intraoperative Neuronavigation mit mordernster Computertechnik Prof. Schnell erklärt: Die 5-ALA-Fluoreszenz-Mikroskopie lässt den Tumor rot-violett leuchten und hebt ihn von gesundem Gewebe ab. Fortsetzung von S. 11 Ultraschall-, CT-, MRT- und PET-Bilder miteinander kombinieren. Wenn sie die Aufnahmen übereinanderlegen, sehen sie, wo der Tumor genau liegt, wie aggressiv er ist, wie schnell oder langsam er wächst und wo Proben genommen werden sollten. Auch bewegungs- und sprachrelevante Areale und Faserbahnen können sich die Ärztinnen und Ärzte in der OP-Planung vorab farbig kennzeichnen. So finden sie immer den kürzesten und sichersten Weg zum Tumor. Während eines Eingriffs blendet das OP-Team dann millimetergenaue Markierungen über dem Operationsfeld ein und kennzeichnet mit dieser Neuronavigation, wo die Schnittlinien verlaufen sollen. „Zusätzlich haben wir in Erlangen den Vorteil, dass wir MRT- und Ultraschallaufnahmen unmittelbar während eines Eingriffs erstellen können“, erläutert Prof. Schnell. „Wir erfahren also in Echtzeit, ob es noch Tumorreste gibt, die wir entfernen müssen.“ Mittels Neuromonitoring überwacht das OP-Team wichtige Nervenfunktionen. „Es gibt beispielsweise einen Sauger, mit dem wir den zerkleinerten Tumor he- rausholen. Das Gerät warnt uns per Audiosignal davor, weiter ins Gewebe vorzudringen, wenn direkt daneben ein Funktionsareal liegt. So schützen wir den Patienten vor Funktionseinschränkungen – etwa vor einem Sprachverlust oder einer Halbseitenlähmung“, beschreibt Prof. Schnell.

| 13 Titel Absolute Ausnahmesituation Hirntumoren werden überwiegend bei Erwachsenen entdeckt, doch es gibt auch immer wieder betroffene Kinder. „Das ist eine Ausnahmesituation für alle – für das Kind, die Eltern, aber auch für uns Ärzte und Ärztinnen“, so Oliver Schnell, der selbst zweifacher Vater ist. „Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn das eigene Kind erkrankt, und dann auch noch an einem Hirntumor. Bei solchen Eingriffen spürt man im ganzen Team eine ganz besondere Alarmbereitschaft und Sensibilität.“ Hirntumoren sind neben Leukämien die häufigste Krebsart bei Kindern. Am Uniklinikum Erlangen gibt es für sie eine eigene Tumorkonferenz mit Kinderspezialistinnen und -spezialisten. „Erfreulicherweise können wir bei Kindern einige Tumoren operativ heilen“, sagt Prof. Schnell. „Kinder haben außerdem ein unglaubliches Erholungspotenzial. Sie stecken Dinge anders weg als Erwachsene und können Funktionen teilweise neu erlernen.“ Bin ich noch ich selbst? Für die meisten Menschen ist eine Operation am Kopf unvorstellbar. Häufig haben sie Angst, dass ein solcher Eingriff ihre Persönlichkeit verändert. Das ist aber laut Prof. Schnell sehr selten. „De facto ist es häufig andersherum“, klärt er auf. „Die Patientinnen und Patienten kommen eher aufgrund von Persönlichkeitsveränderungen zu uns.“ Er gibt ein Beispiel: Ein Kaninchenzüchter hatte Neurochirurgie Telefon: 09131 85-34566 E-Mail: nch-sekretariat@uk-erlangen.de Bürgervorlesung von Prof. Schnell zur Neuroonkologie www.fau.tv/clip/id/50466 Ziel: Zentrum An einem Neuroonkologischen Zentrum wie dem Uniklinikum Erlangen gibt es ein interdisziplinäres Team mit viel Erfahrung, das im Tumorboard die beste Entscheidung im Sinne einer Patientin bzw. eines Patienten trifft. Auch bezüglich Nachsorge und Folgetherapien werden die Erkrankten hier lebenslang gut betreut. sich immer liebevoll um seine Tiere gekümmert. Dann beobachtete seine Frau, dass er völlig die Motivation dafür verlor. Letztlich musste sie die Pflege der Kaninchen übernehmen. Bei ihrem Mann fand man einen großen Tumor hinter der Stirn, der ein Frontalhirnsyndrom mit Antriebslosigkeit und Desinteresse hervorrief. Als der Tumor entfernt war, kehrte die Persönlichkeit des Patienten zurück. Dass ein Hirntumor Beschwerden macht, ist häufig eine Frage der Zeit. „Es gibt immer ein gewisses OP-Risiko“, erklärt Oliver Schnell. „Aber wir sagen oft: Wenn wir nichts machen, wird der Tumor all das, was bei der OP theoretisch passieren könnte, definitiv verursachen. Mit einem Eingriff können wir es kontrollieren.“ Erkrankte durch die Therapie führen Das Team der Erlanger Neurochirurgie möchte seine Patientinnen und Patienten ganzheitlich begleiten. „Wir beraten und lotsen sie von der Diagnostik und Therapie bis hin zur Nachsorge, sodass sie keine wichtigen Termine verpassen und immer wissen, was wann, wo und warum mit ihnen passiert“, erläutert Prof. Schnell. „Gerade bei Krebspatientinnen und -patienten ist es extrem wichtig, sie an die Hand zu nehmen und durch die Erkrankung zu führen. Wir übernehmen die Verantwortung dafür, dass bei uns niemand durchs Raster fällt.“

Titel 14 | HYPOPHYSENCHIRURGIE Bei Tumoren rund um die Hirnanhangdrüse können sich Neurochirurginnen und -chirurgen über die Nase Zugang zum Gehirn verschaffen. Die minimalinvasive Endoskopie erspart Patientinnen und Patienten eine Operation am offenen Schädel. VON ALESSA SAILER Obwohl sie nur etwa erbsengroß ist, erfüllt die Hypophyse eine Reihe wichtiger Funktionen in unserem Körper: Die Hirnanhangdrüse ist nicht nur für die Produktion und Regulation verschiedener Hormone zuständig, sondern steuert auch – zusammen mit dem Hypothalamus, einem Teil des Zwischenhirns – das vegetative Nervensystem. Dazu gehört etwa die Regulierung von Körpertemperatur, Herzschlag, Urinausscheidung, Schlaf, Hunger und Durst. Sitzt allerdings ein Tumor an bzw. in der Hypophyse, schränkt er die Funktion der Drüse meist ein. „Wir unterscheiden zwischen sogenannten funktionellen und nicht-funktionellen Tumoren, also denen, die selbst Hormone produzieren, und denen, die das nicht tun“, erläutert Dr. Sven-Martin Schlaffer, geschäftsführender Oberarzt der Neurochirurgischen Klinik des Uniklinikums Erlangen. Je nach Art des Hypophysentumors, fachsprachlich auch Adenom genannt, treten unterschiedliche Symptome auf. „Manche merken gar nichts von ihrer Erkrankung und bekommen einen Zufallsbefund, wenn sie beispielsweise wegen eines Unfalls ins MRT kommen. Andere klagen über Doppelbilder oder Durch die Nase zum Gehirn Im MRT-Bild für Dr. Sven-Martin Schlaffer deutlich zu erkennen: ein Hypophysentumor. Die meisten dieser Adenome lassen sich mittels Endoskop minimalinvasiv durch die Nase operieren. Für ein perfektes Ergebnis ist viel chirurgische Erfahrung nötig.

| 15 Titel andere Sehstörungen oder die Hormone spielen verrückt“, zählt Dr. Schlaffer auf. Das Hormonungleichgewicht äußert sich unterschiedlich – je nachdem, welcher Botenstoff übermäßig produziert wird. Ein Überschuss an Prolaktin kann sich bei Frauen etwa durch eine unregelmäßige oder ausbleibende Monatsblutung zeigen, bei Männern durch Potenzprobleme. Werden zu viele Wachstumshormone produziert, kommt oft eine Akromegalie zum Vorschein: Dabei sind Hände, Füße, Nase, Kiefer und oft auch Gelenke und Zunge deutlich vergrößert – ebenso wie die Organe. Funktionelle Hypophysentumoren können durch eine Überproduktion von Kortison aber auch Morbus Cushing verursachen, bei dem Betroffene vor allem im Gesicht und am Oberkörper an Gewicht zunehmen, oder durch die übermäßige Ausschüttung von Thyreotropin zu einer Schilddrüsenüberfunktion führen. → Immer bösartig? Nahezu alle Hypophysentumoren sind gutartig. Das heißt, sie breiten sich nur selten unkon- trolliert in umliegendes Gewebe aus. Behandelt werden müssen sie trotzdem, wenn sie Hormon- oder Sehstörungen verursachen. Bei rund 20 Prozent der Betroffenen ist das rein mit Medikamenten möglich. Die Hirnanhangdrüse sitzt auf dem sogenannten Türkensattel, einer Knochenvertiefung im Schädel, die sich etwa auf Höhe der Nasenwurzel befindet.

16 | Titel Dr. Schlaffer bei einer endoskopischen Hypophysenoperation: Die Sicht ist bei diesem Eingriff deutlich besser als mit einem OP-Mikroskop, denn die Kamera am Ende des Endoskops ermöglicht auch Blicke „um die Ecke“. Fortsetzung von S. 15 Enge Abstimmung mit Endokrinologie Um Klarheit zu schaffen, führen die Mitarbeitenden der Neurochirurgie neben der klassischen Bildgebung auch Hormonuntersuchungen durch – immer in enger Zusammenarbeit mit der Medizinischen Klinik 1 – Gastroenterologie, Pneumologie und Endokrinologie. „Manchmal müssen Hypophysenadenome auch gar nicht operiert werden, sondern lassen sich gut medikamentös behandeln. Deswegen ist der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen der Endokrinologie für uns so wichtig“, erklärt Dr. Schlaffer. „Auch wenn ein chirurgischer Eingriff notwendig ist, stimmen wir uns immer mit der Medizin 1 und der Strahlenklinik ab, um zu klären, wie es nach der OP weitergeht.“ Im Herausragende Expertise Die Erlanger Neurochirurgie ist in Hinblick auf Hypophysenoperationen eine der renommiertesten Einrichtungen in Deutschland und Europa. Auch im Bereich der Schädelbasischirurgie besteht eine besondere Expertise: 2022 wurde am Uniklinikum Erlangen ein interdisziplinäres Schädelbasiszentrum eingerichtet. Hier arbeiten die Ärztinnen und Ärzte der Neurochirurgischen Klinik, der Hals-Nasen-OhrenKlinik – Kopf- und Halschirurgie und der Mund-, Kiefer- und Gesichtschi- rurgischen Klinik eng zusammen.

| 17 Titel sogenannten Tumorboard werden dann gemeinsam Fragen geklärt, z. B.: Wie viel Gewebe muss entfernt werden, damit eine eventuelle anschließende Bestrahlung sicher möglich ist – etwa wenn das Adenom in die Umgebung eingewachsen ist und somit nicht der gesamte Tumor entfernt werden kann? Wann und wie erfolgt eine Hormonersatztherapie? „Früher gab es für betroffene Patientinnen und Patienten nur eine Option: die OP. Heute behandeln wir für ein optimales Ergebnis oft multimodal, also zum Beispiel medikamentös, chirurgisch und – sofern notwending – mit Bestrahlung“, so Sven-Martin Schlaffer. „Im Fokus steht aber immer die funktionserhaltende Therapie. Das bedeutet, dass wir manchmal bewusst nicht den kompletten Tumor entfernen, um keine Hormonstörungen zu provozieren. Falls nötig, kann der verbliebene Rest dann bestrahlt werden.“ Bei Sehstörungen sofort handeln Treten bei Tumorpatientinnen und -patienten plötzlich Sehstörungen auf – etwa ein eingeschränktes Gesichtsfeld durch blinde Flecken, ein plötzlicher „Tunnelblick“ oder Verschwommensehen –, drückt das Adenom auf den Sehnerv. Dann ist rasches Handeln gefragt, erklärt der Neurochi- rurg: „Bei diesen Patientinnen und Patienten führen wir so schnell wie möglich eine OP durch, um den Nerv zu entlasten – auch nachts und am Wochenende. Denn je länger der Tumor auf den Nerv drückt, desto höher ist das Risiko, dass es zu bleibenden Schäden kommt.“ Panoramablick durch die Nase Hypophysenadenome entfernen die Neurochi- rurginnen und -chirurgen in der Regel minimalinvasiv durch die Nase: „Das erspart den Betroffenen das Öffnen der Schädeldecke“, sagt Dr. Schlaffer, „denn wir arbeiten uns mit dem Endo- skop und den Instrumenten durch die Nase bis zum Keilbein vor. Das ist ein Knochen der Schädelbasis. Unmittelbar unter dem Tumor eröffnen wir die Schädelbasis. Durch das in der Regel nur Sprechstunde für Hypophysenerkrankungen Telefon: 09131 85-34334 bzw. -34360 (Privatversicherte) kleine Loch entfernen wir dann den Tumor an der Hirnanhangdrüse.“ Die Kamera am beweglichen Endoskop ermöglicht dabei stets ein weites Sichtfeld: Im Gegensatz zum starren OP-Mikroskop bietet sie einen panoramaartigen Überblick über das OP-Feld. „Mit dem Endoskop lassen sich daher auch Tumoren entfernen, die mit dem Mi- kroskop nicht operabel wären“, so der Oberarzt. Früher gab es für betroffene Patientinnen und Patienten nur eine Option: die OP. Heute behandeln wir für ein optimales Ergebnis oft multimodal, also zum Beispiel medikamentös, chirurgisch und - sofern notwendig - mit Bestrahlung. Dr. Sven-Martin Schlaffer

18 |Titel Epilepsie gehört zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen. Dabei ist ein Bereich des Gehirns übermäßig aktiv und sendet zu viele Signale. Da- raus entstehen Anfälle, bei denen manchmal nur einzelne Muskeln zucken – es kann aber auch der gesamte Körper krampfen oder Betroffene verlieren sogar das Bewusstsein. „Viele haben wahnsinnige Angst vor dem nächsten Anfall“, weiß PD Dr. Daniel Delev, leitender Oberarzt und stellvertretender Direktor der Neurochirurgischen Klinik des Uniklinikums Erlangen. „Oft haben Epilepsieerkrankte soziale und familiäre Probleme, weil sich der gesamte Alltag um die Krankheit dreht – beispielsweise in der Schule oder bei der Arbeit. Außerdem dürfen sie aufgrund der Anfälle häufig nicht Auto fahren. Das ist eine deutliche Beeinträchtigung für viele.“ Wiederholte epileptische Anfälle gehen mit einer geringeren Lebenserwartung einher – auch deshalb ist es so wichtig, die Erkrankung zu kon- trollieren. Viele Patientinnen und Patienten können ihre Epilepsie medikamentös in Schach halten, EPILEPSIECHIRURGIE Wenn die Muskeln plötzlich zittern oder krampfen, kann das ein epileptischer Anfall sein. Die Ursache liegt im Gehirn. Wo genau, das können Neurochirurginnen und -chirurgen herausfinden – und so auch Menschen helfen, bei denen Medikamente keine Besserung bringen. VON ALESSA SAILER Der Kampf gegen den Krampf Dr. Delev (l.) bei der Vorbereitung einer Operation Die blauen Pfeile zeigen auf die Stellen, die für die Anfälle der Patientin verantwortlich sein könnten.

| 19 Titel ein Drittel spricht jedoch nicht darauf an. „Wiederum jede dritte Person in dieser Gruppe könnte von einer Operation profitieren“, so Dr. Delev. Die Ursache finden Im Rahmen von Epilepsiekonferenzen sprechen Expertinnen und Experten unterschiedlicher Fachrichtungen über jeden Fall individuell und beraten darüber, bei wem eine OP eine Besserung bringen könnte. „Als Erstes suchen wir nach dem ‚Generator‘, also der Stelle im Gehirn, die für die Anfälle verantwortlich ist“, erklärt der Neurochirurg. „Epilepsie kann genetische Ursachen haben, aber auch durch Dysbalancen im Stoffwechsel oder strukturelle Veränderungen an Teilen des Gehirns ausgelöst werden. Ein Beispiel dafür sind Kavernome – kleine Blutgefäßknöllchen, die aussehen wie Brombeeren, – und Tumoren“, zählt Daniel Delev auf. Je nach Art können sich bis zu 70 Prozent der Hirntumoren in Form einer Epilepsie äußern – vor allem bei Kindern und jungen Erwachsenen. Strukturelle Veränderungen lassen sich chirurgisch gut behandeln. „Das Ziel einer solchen Operation ist immer die Anfallsfreiheit“, so Dr. Delev, „möglichst kombiniert mit einer Reduzierung und langfristig mit dem Absetzen der Medikamente.“ Doch wie finden Neurochirurginnen und -chirurgen heraus, welche Stelle im Gehirn die Anfälle auslöst? „Wir bieten die komplette Diagnostik-Palette an: von PET-Scan über MRT bis hin zur MEG“, betont der Neurochirurg. Das Epilepsiezentrum des Uniklinikums Erlangen ist eine von nur wenigen Einrichtungen in Europa, die die Magnetenzephalografie (MEG) anbieten. „Dabei werden magnetische Signale aufgezeichnet, die die Nervenzellen des Gehirns generieren. Anhand der Richtungsänderung dieser Ströme können wir herausfinden, wo im Gehirn der Herd liegt, der für die Epilepsie verantwortlich ist.“ Ist der Fokus gefunden, kann er durch eine Operation entfernt werden. Manche Patientinnen und Patienten benötigen zusätzlich die Implantation von Elektroden im Gehirn, um das krampfende Areal zu bestimmen. Bei Patientin Clara Gerster* waren es insgesamt neun Stellen (s. Foto links), an denen die Elektroden eingesetzt wurden. „Die Patientin leidet schon seit Langem an Epilepsie und wurde deswegen schon vor einigen Jahren operiert. Dennoch waren die Anfälle nicht weg“, berichtet Dr. Delev. „Anhand der Elektrodenstimulation konnten wir ausmachen, von welchem Areal die Überaktivität der Hirnzellen ausgeht, und die Patientin so gezielt nachoperieren.“ Patientinnen und Patienten, bei denen weder Medikamente helfen, noch eine Entfernung möglich ist – etwa aufgrund der ungünstigen Lage der Epilepsieherde –, kann die sogenannte Neuromodulation helfen. Dabei werden die Hirnzellen durch regelmäßige elektrische Ströme umstrukturiert, sodass die epileptische Hirnaktivität gehemmt wird und so Anzahl und Intensität der Anfälle abnehmen. Dr. Delev: „Dafür implantieren wir eine Art Schrittmacher, der entweder den Vagusnerv am Hals stimuliert oder ein bestimmtes Areal direkt im Gehirn. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Neuromodulation vielen Betroffenen hilft.“ * Name von der Redaktion geändert Sprechstunde für Epilepsiechirurgie Telefon: 09131 85-34547 E-Mail: nc-termin@uk-erlangen.de Das Team der Erlanger Neurochirurgie will für Epilepsie-OPs bald auch einen speziellen Laser einsetzen. Für den minimalinvasiven Eingriff wird lediglich ein kleines Loch im Schädel benötigt, durch das der Katheter mit Laserspitze eingeführt wird. Sie „verödet“ dann die krampfenden Areale im Gehirn.

20 | Der Samurai und die Sklerodermie Die schwarze Silhouette eines Samurai hebt sich vom rosafarbenen Abendhimmel ab. Der Krieger hat sein Schwert erhoben. Links von ihm steht das Haus, in dem er lebt, rechts ein blühender Kirschbaum. Das Bild hat ein alter Freund für Stefan K. gemalt. „In dem Samurai sehe ich mich, in dem Haus meine Familie und in dem Kirschbaum mein Ich“, erklärt Stefan K. „Das Schwert ist gegen meine Krankheit gerichtet, sodass Haus und Baum verteidigt werden. Jahrzehntelang habe ich Selbstverteidigung trainiert und gelehrt. Jetzt wende ich sie gegen meine Krankheit an.“ Die ersten Siege hat der 56-Jährige bereits errungen. „Ich kann den Kopf wieder nach hinten neigen und ein Glas Wasser komplett leer trinken. Ich kann von einem Stuhl aufstehen, ohne mich abzudrücken, bin weniger müde und habe mehr Energie.“ Was für die meisten Menschen tägliche Selbstverständlichkeiten sind, betrachtet Stefan K. als große Fortschritte. „Wenn man einmal so tief war, ist man schon mit wenig zufrieden.“ → CAR-T-ZELLEN Einige Monate, nachdem er CAR-T-Zellen erhalten hat, spürt Stefan K. erste gesundheitliche Verbesserungen. Der Sklerodermie-Patient fühlt sich körperlich stärker. Allmählich kehrt er in einen normalen Alltag zurück. VON FRANZISKA MÄNNEL Feature

| 21 Feature Die Philosophie der Kampfkunst hat mir mental immer geholfen. Stefan K.

22 | punkt seiner Krankheit reichte die Kraft nicht mal mehr für einen Spaziergang: Die Leistung seiner Lunge sank auf 30 Prozent. Letzte Chance: CAR-T-Zellen Keines der Medikamente wirkte gut genug. Weder Blutverdünner, ACE-Hemmer oder Kortison noch ein Biologikum gegen die Autoimmunprozesse oder ein Mittel gegen die Vernarbungen in der Lunge. Stefan K., der mit seiner Familie im Rhein-SiegKreis in Nordrhein-Westfalen lebt, bekam deshalb im September 2023 am Uniklinikum Erlangen eine Infusion mit CAR-T-Zellen. Damit war er der 100. Patient, den die Erlanger Ärztinnen und Ärzte auf diese Weise behandelten. Feature Fortsetzung von S. 20 Zeitweise war seine Haut so verdickt und gespannt, dass sie einfachste Bewegungen wie das Heben der Arme oder des Kopfes nicht mehr zuließ. Sklerodermie, auch Progressive Systemische Sklerose, heißt die gefährliche Autoimmunkrankheit, bei der sich unkontrolliert immer neues Bindegewebe bildet. Es verklebt und verhärtet die Haut, aber auch Lunge, Herz, Nieren und andere innere Organe, bis diese ihre Funktion teilweise oder sogar ganz verlieren. Die Blutgefäße werden geschädigt, Muskeln und Gelenke entzünden sich und schmerzen. „Das einzige Positive an dieser Krankheit ist vielleicht, dass ich durch mein straffes Gesicht viel jünger aussehe, als ich bin“, so Stefan K. „Aber darauf könnte ich verzichten.“ Angriff aus dem Nichts Im März 2020 kribbelten Stefan K. in der Sauna plötzlich die Finger. „Dabei habe ich mir erst mal nichts gedacht“, schildert er. „Dann hatte ich beim Stehen Schmerzen in den Füßen. Irgendwann wurden meine Hände ganz dick.“ Vom Hausarzt wurde Stefan K. zum Rheumatologen geschickt, der die unerklärlichen Symptome schließlich einordnete. Sklerodermie hieß fortan der Gegner, der den bis dato gesunden und sportlichen Körper von Stefan K. auf brutale Weise angriff. Innerhalb eines halben Jahres rang die Krankheit Stefan K. nieder. Er verlor 15 Kilo Gewicht, war konstant auf die Hilfe seiner Frau angewiesen, konnte sich nicht mehr um seinen achtjährigen Sohn kümmern, wie er es wollte. Keine 50 Meter kam Stefan K. voran, ohne Luftnot zu bekommen. „Meine Lunge war mal mein Paradeorgan“, erinnert sich der Patient, der neben dem Kampfsport früher auch regelmäßig joggte und Rennrad fuhr. Auf dem HöheStefan K. im September 2023 – am Tag seiner CAR-TZell-Therapie – mit Prof. Mackensen (l.) und Prof. Schett. Die umprogrammierten Immunzellen wurden eigens für den Patienten in der Medizin 5 hergestellt und ihm dort verabreicht.

| 23 CAR-T-Zellen sind eigentlich eine neuartige Immuntherapie gegen Krebs. Als Medikament zugelassen sind sie deshalb aktuell nur für bestimmte Leukämieformen und Lymphdrüsenkrebs sowie für das Multiple Myelom – eine bösartige Knochenmarkserkrankung. Doch im Rahmen von Studien setzen Ärztinnen und Ärzte die Zellen auch gegen Autoimmunerkrankungen wie die Sklerodermie ein. Um eine individuelle Infusion herzustellen, werden der Patientin bzw. dem Patienten zunächst eigene Immunzellen (T-Lymphozyten) entnommen und gentechnisch mit einer „Spezialbrille“ ausgestattet, die schädliche Zellen erkennt. Diese Brille ist der chimäre Antigenrezeptor, kurz CAR. Die umprogrammierten T-Zellen werden der bzw. dem Betroffenen anschließend zurückgegeben. Sie docken an bösartige Zellen an und zerstören sie. „Wir haben in den vergangenen Jahren beobachtet, dass CAR-T-Zellen aber nicht nur Krebszellen attackieren, sondern auch fehlgeleitete Immunzellen, die Autoantikörper gegen den eigenen Organismus produzieren“, erklärt Prof. Dr. Andreas Mackensen, Direktor der Medizinischen Klinik 5 – Hämatologie und Internistische Onkologie des Uniklinikums Erlangen. „Wir setzen CAR-T-Zellen deshalb auch zunehmend gegen Autoimmunerkrankungen ein und haben damit schon beeindruckende therapeutische Erfolge erzielt“, ergänzt Dr. med. univ. Georg Schett, Direktor der Medizinischen Klinik 3 – Rheumatologie und Immunologie des Uniklinikums Erlangen. Die Teams der Medizin 3 und der Medizin 5 betreuen Stefan K. gemeinsam. → Feature CAR-T-Zellen in Erlangen 2019 wurden in der Medizin 5 des Uniklinikums Erlangen die ersten Betroffenen mit Leukämie bzw. Lymphdrüsenkrebs mit CAR-T-Zellen behandelt. Die weltweit erste Patientin mit der Autoimmunerkrankung Systemischer Lupus Erythematodes erhielt ihre Infusion 2021. Bis heute ist sie beschwerdefrei. CAR-T-Zelle mit künstlichem Antigenrezeptor für CD19 Tumorzelle oder autoreaktive B-Zelle mit Antigen CD19 Sowohl bestimmte Krebs- als auch fehlgeleitete Immunzellen (autoreaktive B-Zellen) besitzen das Antigen CD19. CAR-T-Zellen können CD19 auf der Zelloberfläche erkennen, dort andocken und die schädlichen Tumor- bzw. B-Zellen vernichten. So entstehen und wirken CAR-T-Zellen

24 | Fortsetzung von S. 23 Vier Monate danach „Es geht in die richtige Richtung und ich hoffe, dass es weiter besser wird“, berichtet Stefan K. heute, im Januar 2024 – knapp vier Monate nach der CAR-TZell-Behandlung. „Ich merke bei alltäglichen Tätigkeiten, dass sie mir viel leichter fallen. Mein Allgemeinzustand, die Erschöpfung und meine Aufmerksamkeit sind besser geworden. Ich habe auch wieder mehr Appetit und schon etwas zugenommen. Mir schmecken wieder Dinge, die ich zu Hochzeiten der Krankheit gar nicht mochte. Auch das Treppensteigen ist einfacher“, zählt er auf. Ende Januar will der Ausbildungsmeister, der Lehrlinge im Bereich Sanitär-, Heizungs- und Klimahandwerk betreut, zurück an seinen Arbeitsplatz. „Mir macht mein Beruf Spaß, ich freue mich darauf. Ich mache deshalb auch kein Eingliederungsprogramm, sondern starte gleich wieder voll.“ Die Krankheit hat seine Finger- und Handgelenke deformiert, nicht aber seine Psyche. „Die Philosophie der Kampfkunst hat mir mental immer geholfen“, sagt Stefan K. Etwas Schattenboxen geht Feature Januar 2024: Mittels Kapillarmikroskopie untersucht Dr. Christina Bergmann von der Medizin 3 die Haargefäße in den Fingern von Stefan K. Sie geben Auskunft über die aktuelle Krankheitsaktivität. Der Sklerodermie-Patient im Januar 2024 bei einem Gespräch am Uniklinikum Erlangen

| 25 schon, „aber ich kann die Fäuste noch nicht ballen. Dank meiner Ergotherapeutin ist aber vor allem die linke Hand schon wieder viel beweglicher.“ In der Medizin 3 des Uniklinikums Erlangen untersucht heute Dr. Christina Bergmann die feinsten Blutgefäße in den Fingern von Stefan K. „Bei Sklerodermie tritt häufig das Raynaudphänomen auf – eine unangenehme Durchblutungsstörung der Finger“, erklärt die Ärztin (s. Kasten). „Unter dem Mikro- skop sehen wir dann, dass die Kapillaren im Nagelfalz erweitert sind. Später treten Mikroblutungen auf, bis hin zur Zerstörung der kleinsten Gefäße.“ Das Gute: Aktuell kann Dr. Bergmann keine neuen Veränderungen bei Stefan K. feststellen. Anschließend begutachtet die Ärztin noch die Arme und Beine ihres Patienten und prüft, ob die Haut dort noch hart oder schon geschmeidiger und beweglicher ist als vor der Therapie. „Die Arme sind weicher geworden“, bestätigt der Untersuchte. Auch Oberarzt PD Dr. Fabian Müller, Leiter der CART-Zell-Einheit der Medizin 5, sieht positive Entwicklungen bei Stefan K.: „Schon nach der vorbereitenden Chemotherapie, die Platz für die CAR-T-Zellen geschaffen hat, ging es dem Patienten besser, seine Gelenkschmerzen und Hautläsionen klangen ab. Anschließend haben unsere CAR-T-Zellen getan, was sie tun sollten: fehlgeleitete B-Zellen eliminieren. In der nuklearmedizinischen Bildgebung sehen wir knapp 16 Wochen nach der Therapie deutlich weniger aktivierte Bindegewebszellen – die sind typisch für die Systemische Sklerose.“ „Das Leben davor war keine Option“ Ob Stefan K. die CAR-T-Zell-Therapie noch einmal machen würde? „Auf jeden Fall. Das Leben, das ich hatte, war keine Option. Iron Man mache ich nicht mehr, das habe ich mir abgeschminkt“, sagt er und lacht, „aber ich überlege, wie ich das mit dem Kampfsport und dem Bogenschießen gestalte – vielleicht mit einer Schiene für mein Handgelenk, damit ich den Bogen stabil halten kann.“ In seiner Freizeit schnitzt Stefan K. selbst Bögen, fertigt Taschenmesser und andere Werkzeuge. Lange Wochen hat er isoliert von anderen Menschen verbracht, um sich vor Infektionen zu schützen und wieder zu Kräften zu kommen. Dass er nun endlich wieder nach draußen kann, unter anderem in den Baumarkt, um sich dort seine Materialien zu besorgen, gibt ihm neuen Auftrieb. „Im Moment bastele ich an einer indianischen Kugelkopfkeule. Die ist verwandt mit dem Tomahawk. Mal sehen, wie die wird.“ Ein Samuraischwert hat Stefan K. ja bereits – schwarz auf rosa, und jederzeit griffbereit in seinem Kopf. Feature Von Weiß zu Blau zu Rot Beim Raynaudsyndrom kommt es zu einem schmerzhaften Gefäßkrampf in den Fingern. Die Durchblutung ist unterbrochen, die Finger werden erst weiß, dann blau und letztlich – wenn das Blut wieder fließt – hellrot. Das Raynaudsyndrom kann u. a. durch Kälte und Feuchtigkeit, Stress und Nikotin ausgelöst werden. Wichtig: Bei 80 Prozent der Betroffenen treten die Symptome ohne eine Begleiterkrankung auf. Bei 20 Prozent liegt dem Syndrom eine andere Erkrankung zugrunde, etwa eine Sklerodermie. Fragen zur CAR-T-Zell-Therapie Telefon: 09131 85-35954 (Medizin 5) oder 09131 85-33418 (Medizin 3) Video: Schlägt die CAR-T-Zell- Therapie an? www.gesundheit-erlangen.com

26 | Medizin Durchblick bewahren Was genau sind Grüner und Grauer Star? Es sind zwei gänzlich verschiedene Augenerkrankungen. Beim Grünen Star, dem Glaukom, handelt es sich um eine Erkrankung des Sehnervs. Der Graue Star, auch Katarakt genannt, betrifft hingegen die Augenlinse. Wie entsteht ein Glaukom? Ein Glaukom wird meist durch einen zu hohen Augeninnendruck ausgelöst. Kammerwasser, das die Linse und die Hornhaut benetzt, ist für unser Auge essenziell. Wenn nun aber Stoffwechselreste die Abflusskanäle im Auge verstopfen, staut sich das Kammerwasser, wodurch sich der Augeninnendruck erhöht. Dies führt wiederum dazu, dass die Fasern des Sehnervs absterben. Der Sehnerv ist praktisch der Kabelschacht, in dem alle 1,2 bis 1,5 Millionen Nervenfasern von den Netzhautsinneszellen zum Gehirn verlaufen. Diese Fasern können sich nicht regenerieren. Gibt es weitere Faktoren, die die Entstehung des Grünen Stars begünstigen? Ja, neben dem erhöhten Augeninnendruck gehören auch Diabetes, starke Kurzsichtigkeit und ein hohes Lebensalter zu den Risikofaktoren. Zudem ist der Grüne Star häufig Vererbungssache. Gibt es jemanden mit Glaukom in der direkten Verwandtschaft, ist das immer ein Grund für den Besuch bei einer Augenärztin oder einem Augenarzt. Die Früherkennung ist letztlich entscheidend, um den Verlust des Sehvermögens zu verhindern. Ab 40 SPRECHSTUNDE Grauer Star und Grüner Star gehören zu den häufigsten Augenleiden weltweit. Wo der Unterschied liegt, warum Früherkennung essenziell ist und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt, erläutert Augenarzt Prof. Dr. Christian Mardin. INTERVIEW VON MARIE GRABER Ab 40 Jahren und spätestens mit der ersten Lesebrille sind regel- mäßige Augenunter- suchungen ein Muss. Prof. Dr. Christian Mardin Jahren und spätestens mit der ersten Lesebrille sind regelmäßige Augenuntersuchungen ein Muss. Welche Symptome sind typisch für den Grünen Star? Der Grüne Star ist tückisch, da er oft ohne erkennbare Symptome beginnt. Das zentrale Sehen funktioniert sehr lange gut. Doch nach und nach engt sich das Gesichtsfeld von außen zur Mitte ein. Die Nervenfasern, die das äußere Gesichtsfeld versorgen, sterben als Erstes ab. Das heißt, erst →

Medizin | 27

■ Die Bezeichnung „Star“ kommt aus dem Mittelalter und galt damals für alle Augenerkrankungen, die letztlich zur Erblindung führten. Bis ins 18. Jahrhundert wurde die trübe Linse beim Grauen Star mit einem Messer ohne Betäubung in das Auge hineingedrückt, um das Sehen zu verbessern. Viele Betroffene erblindeten oder starben sogar bei dieser Prozedur. ■ Heute zählt die schmerzfreie Opera- tion des Grauen Stars zu den häu- figsten Eingriffen in Deutschland. Pro Jahr lassen sich etwa 700.000 Menschen operieren. ■ Etwa drei Millionen Menschen bundesweit haben einen zu hohen Augeninnendruck; rund 920.000 Deutsche sind derzeit an einem Glaukom erkrankt. 28 | Medizin Fortsetzung von S. 26 wenn man zum Beispiel mit der Schulter am Türrahmen hängen bleibt oder mit dem Auto an etwas vorbeischrammt, merkt man, dass etwas nicht stimmt. In diesem fortgeschrittenen Stadium treten dann häufig auch Kopfschmerzen auf. Starke Symptome bestehen allerdings nur bei einem akuten Glaukomanfall. Wie äußert sich ein solcher Glaukomanfall? Bei dieser Sonderform des Grünen Stars erhöht sich der Augeninnendruck nicht über längere Zeit, sondern schlagartig. In einem solchen Fall ist das Auge stark gerötet und hart, die Pupille ist erweitert und das Sehvermögen oft erheblich gestört. Betroffene haben starke dumpfe Schmerzen um das Auge herum, die nicht selten von Übelkeit, Erbrechen und einem Anstieg des Blutdrucks begleitet werden. Um bleibende Schäden zu verhindern, ist sofortige ärztliche Hilfe nötig. Wie lässt sich der Grüne Star behandeln? Die Behandlung kann medikamentös erfolgen, das heißt mit entsprechenden Augentropfen, um den Augeninnendruck zu senken. In fortgeschrittenen Fällen empfiehlt sich eine Laserbehandlung oder ein operativer Eingriff. Beispielsweise schaffen wir bei der Trabekulektomie einen künstlichen Abfluss für das Kammerwasser im Auge. Häufig ist auch die Kanaloplastik, bei der wir ein ringförmiges Implantat durch den Abflusskanal der Kammerflüssigkeit legen, das den Kanal dauerhaft erweitert. Eine besonders schonende OP-Methode beim Grünen Star sind Mikro-Stents, die über einen Schnitt am Hornhautrand in den Abflusskanal gesetzt werden. Allerdings kann der Verlauf einer Glaukom- erkrankung maximal gestoppt oder verlangsamt werden, eine Heilung ist nicht möglich. Was erwartet Patientinnen und Patienten nach der Behandlung? Bei einer rechtzeitigen Diagnose und einer angemessenen Behandlung können die meisten Patientinnen und Patienten ein normales Leben führen und ihre Sehkraft erhalten. Die regelmäßige Nachsorge ist jedoch wichtig, um sicherzustellen, dass der Druck im Auge kontrolliert bleibt und etwaige Komplikationen frühzeitig erkannt werden. Wie äußert sich der Graue Star? Eine Katarakterkrankung manifestiert sich durch eine Trübung der Augenlinse. Erkennen lässt sie sich an einer gräulichen Verfärbung hinter der Pupille. Die Patientin bzw. der Patient sieht dann unscharf, wird blendempfindlicher und nimmt Farben als gelblicher und bräunlicher wahr. Auch das Lesen von Schildern und Fernsehen werden schwieriger. Der Hauptgrund für die Erkrankung ist der natürliche Alterungsprozess. Ein Grauer Star kann aber auch angeboren sein. Gibt es vorbeugende Maßnahmen? Nein. Ein gesunder Lebensstil, der Verzicht auf das Rauchen und der Schutz der Augen vor UV-Strahlung können jedoch dazu beitragen, das Risiko zu minimieren.

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